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Joo Yo-seop: „Der Hausgast und meine Mutter“

2019-03-12


Aus dem Sendeinhalt


Meine Mama ist die liebste Frau der Welt. Sie ist erst 24 und schon Witwe. Was eine Witwe ist, weiß ich auch nicht so ganz genau, aber alle Nachbarn nennen mich die Tochter der Witwe, und das bedeutet wohl, dass meine Mutter eine Witwe ist. Alle anderen haben einen Vater, aber ich nicht. Vielleicht nennt man mich deshalb die Witwentochter, weil ich keinen Vater habe.

 


Die Geschichte “Der Hausgast und meine Mutter” wird erzählt aus der Perspektive der sechsjährigen Ok-hee. Sie lebt bei ihrer Mutter, ihr Vater ist noch vor ihrer Geburt gestorben. Der Hausgast, eine zentrale Figur dieser Geschichte, ist ein alter Freund des Vaters und ebenso wie dieser Lehrer in der nahegelegenen Schule. Er wohnt bei Ok-hees Familie in einem vermieteten Zimmer. Zu dem Mädchen ist er stets freundlich, liest ihr Geschichten vor und schenkt ihr Süßigkeiten. 

Diese Liebesgeschichte zwischen der Witwe und ihrem Mieter, stellt einen Meilenstein der koreanischen Literatur dar. 



Literaturkritikerin Jeon So-yeong:

Joo Yo-seop hat in Japan, China und den USA studiert. In den meisten seiner Texte betont er, dass junge Koreaner fremde Kulturen begeistert annehmen und ihre alte Denkweise reformieren sollten, denn er glaubte, dass junge Menschen das kolonisierte Korea aus der düsteren Vergangenheit in eine neue, bessere Zukunft führen würden. Ok-hees Mutter und der Hausgast gehörten der jüngeren Generation an. Der Autor zeigt ihr Leiden und ihre Verzweiflung, die durch die feudalen Praktiken der Gesellschaft verursacht werden, und er kritisiert so die alte stagnierende Gesellschaft, die die Menschen ihres angeborenen Rechts, des Rechts auf Liebe, beraubt.



Eines Tages, nach dem Mittagessen ging ich hinüber in sein Zimmer und sah, wie er dort sein Essen zu sich nahm. 

„Ok-hee, was isst du am liebsten?”, fragte er. 

Ich sagte: “Gekochte Eier”, und er gab mir ein gekochtes Ei ab. 

Ich pellte das Ei und fragte ihn:, “Und was isst du am liebsten?” Er lächelte einen Augenblick lang und sagte dann: „Gekochte Eier.“

Ich klatschte vor Freude in die Hände und rief: „Genau wie ich! Das muss ich Mama sagen!“ Aber er ergriff meine Hand und sagte: “Nein, sag ihr das nicht.”

Aber wenn ich mir etwas vorgenommen hatte, dann war ich nicht so leicht davon abzubringen.

“Mama, Mama! Der Onkel mag gekochte Eier! Genauso wie ich!“

“Sei still!”, tadelt sie mich. 

Aber dass unser Hausgast gerne Eier aß, kam mir zugute, denn Mama kaufte von nun an mehr davon. 

Ich mochte ihn wirklich gerne. 




Joo Yo-seop (1902-1972) begann seine Laufbahn als Schriftsteller 1921 mit der Geschichte „Der zerbrochene Krug“. Im Jahre 2004 erhielt er posthum die National Foundation Medal. Seine Erzählung „Der Hausgast und meine Mutter“ stammt aus dem Jahr 1935.

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