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Ham Jeong-im: „All die Augenblicke“

2020-06-23

ⓒ Getty Images Bank

Hee-sun schaut aus dem Fenster. Die frischen Knospen, die aus den beschnittenen Zweigen des Kakibaums sprießen, funkeln in der Sonne.

Die alte Standuhr im Flur macht ein schnarrendes Geräusch, als würde sich der Mond füllen. Die Uhr beginnt zu schlagen. Hee-sun zählt jeden einzelnen Schlag. Die Uhr schlägt zwölfmal. Das Geräusch erfüllt das Haus und fliegt dann hinaus bis jenseits des Kakibaums. Ein grüner Schimmer, vom Sonnenlicht reflektiert wird, flackert hinter Hee-suns Augenlidern.



Hee-sun und Nam-sik sind ein Ehepaar. Beide sind mittlerweile über 80. Sie sind während des Krieges aus Nordkorea geflohen und haben sich in Südkorea niedergelassen. Immer wieder brechen Erinnerungen auf. 



Es war Mai. Hee-sun und Nam-sik waren gerade am blauen Tor angekommen. In der Mitte des Hofes stand ein junger Kakibaum. Nam-sik nahm das Bündel ab, das sie auf dem Kopf getragen hatte, und wiegte es in ihren Armen. Dann riss sie das Tor mit dem Selbstvertrauen einer Hausbesitzer auf. Hee-sun konnte nicht so kühn eintreten wie seine Frau. Er schaute zurück in die Gasse, die sie gerade durchquert hatten.

Erinnerungen an ferne Augenblicke, die länger als vier Jahrzehnte zurücklagen, gingen ihm durch den Kopf, Augenblicke, die er erlebt hatte, als er von seinem Elternhaus in Haeju im Norden bis zu diesem Haus mit dem blauen Tor am Stadtrand von Seoul gezogen war. Da waren Erinnerungen an einen Krieg, an einen langen Zug von Flüchtlingen, an Menschen, die rings um ihn starben. Er konnte nicht in seine Heimat zurückkehren und wusste nicht, wo seine Eltern und Geschwister waren, geschweige denn, ob sie am Leben waren oder nicht.

Nun hatte er eine Frau und drei Kinder und war das Familienoberhaupt. Wie war es überhaupt dazu gekommen? Als er so auf sein Leben zurückblickte, wurde ihm schwindelig, als stünde er vor einem tiefen Abgrund.

 



Ham Jeong-im, Jahrgang 1964, begann seine Schriftstellerlaufbahn 1990 und gewann 2013 den renommieren Yisang-Literaturpreis. Seine Geschichte „All die Augenblicke“ stammt aus dem Jahr 2016.

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