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Eun Hee-kyung: „Duett”

2020-03-24

ⓒ Getty Images Bank

„Mama, warst du glücklich, als du mich heute vor 34 Jahren zur Welt gebracht hast?“

„Natürlich nicht. Ich habe mir unter der Decke die Augen ausgeweint, ohne dich überhaupt anzusehen. “

„Warum?“

„Weil du ein Mädchen warst.“

Jeong-sun wollte In-hye damals nicht einmal im Arm halten, weil sie ein Mädchen war. Nein, das stimmte nicht. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie es wegen des missbilligenden Blicke ihrer Schwiegermutter nicht gekonnt. Ihre Schwiegermutter machte sich im eiskalten November nicht einmal die Mühe, den Raum aufzuheizen, nur weil sie ein Mädchen zur Welt brachte. Jeong-sun spürte, wie ihr Herz buchstäblich in zwei Hälften zerbrach, als die Kiefer ihres kleinen Babys in der Kälte klapperten.

„Ja, Mädchen müssen lernen, solche Ungerechtigkeiten und Qualen von Geburt an zu ertragen“, sagte sie.

Jeong-suns Schwiegermutter starb im Winter des Jahres, als In-hye drei Jahre alt wurde. Aber ihr Geist verfolgte Jeong-sun weiter.

„Anstatt dieses nutzlose Mädchen zu verhätscheln, wirf den Kompost in den Gemüsegarten!“

Jeong-sun glaubte zu hören, wie ihre Schwiegermutter sie so anschrie und durch die Tür stürmte, während sie mit In-hye auf dem Schoß vor dem Ofen saß. In solchen Moment kam es vor, dass sie ihre Tochter vor Schreck auf den Boden fallen ließ, als habe ihr jemand gegen das Knie getreten.



Literaturkritikerin Jeon So-yeong:

Ein Merkmal der koreanischen Literatur in den neunziger Jahren war eine Fülle von Geschichten, die sich mit feministischen Themen befassten und die von der Öffentlichkeit durchweg sehr positiv aufgenommen wurden. Schriftstellerinnen begannen, die Realität der Diskriminierung oder Unterdrückung von Frauen objektiv zu betrachten und sie der breiten Masse zuzumuten. Sie fingen an, über ihre gemeinsame Verpflichtung zu schreiben, angemessene Antworten zu finden und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Eun Hee-kyung und andere Schriftstellerinnen brachten das tägliche Leben und die Standpunkte von Frauen, die bis dahin außer Acht gelassen worden waren, der Öffentlichkeit nahe und beschrieben anschaulich, wie ihre weiblichen Charaktere wachsen, um die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu erlangen.



"Mama, vermisst du Papa eigentlich?"

"Ich weiß nicht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er weg ist. " 

„Denk nur daran, wie er dich gequält hat. Hast du ihn nicht sehr gehasst? Er hat dir so viel Kummer mit seiner Affäre gemacht. “

„So sollte eine Tochter nicht über ihren Vater reden. Affäre, mein Gott. Ich habe dir gesagt, dass damals alle so waren.“

„Bist du unglücklich, dass ich mich habe scheiden lassen?“

„Nun, ich ...“

Jeong-sun konnte nicht direkt sagen, dass sie nicht unglücklich war.

„Ich mache mir Sorgen, wie du von jetzt an leben wirst.“

„Mach dir keine Sorgen, Mama. Mir wird es gut gehen.“

In-hye sah vielleicht nicht glücklich aus, aber ihr Gesicht zeigte innere Stärke. Im Grunde sah In-hye überhaupt nicht wie Jeong-sun aus. Und auch nicht wie Jeong-suns Schwiegermutter.

„Ich werde noch ein paar Tage bei dir bleiben. Wann sonst habe ich den Luxus, Zeit mit dir zu verbringen? Wir können über Papa herziehen.“

„Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde deinen Vater nicht schlecht reden.“

Die beiden Frauen sahen gemeinsam das Foto von Jeong-suns Ehemann an. Und so ertranken Mutter und Tochter ihre Sorgen tief in ihren Augen und ließen nur verhärtete Gelassenheit über ihre Netzhaut schweben. Jeong-sun erkannte es vielleicht nicht, aber die beiden Frauen sahen vollkommen gleich aus.




Eun Hee-kyung, geboren 1959, begann ihre Schriftstellerkarriere 1995 und wurde seitdem mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr Kurzroman „Duett“ erschien 1995.

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