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Kultur

Kim Ee-sul: „Die Todesnachricht“

2019-08-06

ⓒ Getty Images Bank

Das Telefon klingelte. Die Uhr zeigte drei Uhr morgens. Es war meine Stiefmutter.

„Deine Mutter ist tot.“ 

Meine Stiefmutter klang ganz ruhig. Sie sagte, mein Vater wolle, dass ich rüberkäme. Ich sah Sang-joon an. Er sah wohl, dass etwas nicht stimmte, kam zu mir und legte seine Hand auf meine Schulter.

„Was ist?“, fragte er.

„Meine Mutter ist tot“, sagte ich.

Sang-joon nahm mich in die Arme. Sein Körper, an meine nackte Haut gedrückt, fühlte sich noch immer heiß an.

„Du musst traurig sein, Eun-hee.“

Mama war in den letzten zwei Jahren eine Last für meine Familie gewesen. Ihr ganzer Körper war an den Folgen des Diabetes dahingesiecht. Auch nachdem sie ihr Augenlicht und ein Bein verloren hatte, hatte sie weitergelebt. Ich war nicht traurig.



Eun-hees leibliche Mutter, die die Familie verlssen hat, weil sie es nicht länger ertrug, von ihrem Mann betrogen zu werden, ist gestorben. Es ist die Stiefmutter, die Eun-hee die Todesnachricht vermittelt und zu der sie eine viel größere Nähe entwickelt hat.



Ich trank den heißen Kaffee und starrte auf den Monitor. Der Kaffee schmeckte anders als sonst. 

Mama war gestorben. Jeder stirbt. Es gab keinen Grund, traurig zu sein.

Mama hatte ihren Mann, meinen Bruder und mich verlassen, als wir klein waren. Es fühlte sich an, als würde ich unverdautes Essen schmecken, das mir wieder in den Hals kam. Ich hatte schlechte Laune.



Literaturkritikerin Jeon So-yeong:

Eun-hees Gegenwart wird stark von ihrer Vergangenheit beeinflusst. Nachdem ihr Vater ein solch traumatisches Ereignis in ihrem Leben erlebt hat, zwingt er sie, still zu bleiben, was schließlich ihre Persönlichkeit verändert. Sie hat vergessen, wie man sich selbst ausdrückt und häuft Geheimnisse an. In der Geschichte gibt es viele Szenen, in denen ihre Worte nicht ihre tatsächlichen Gefühle widerspiegeln, beispielsweise, als sie vom Tod ihrer Mutter erfährt und sich sagt, dass jeder stirbt und es keinen Grund gibt, traurig zu sein. Dies sind wahrscheinlich nicht ihre wahren Gefühle. Deshalb sagt sie auch, dass der Kaffee nicht gleich schmeckt. Es zeigt, dass das, was sie sagt und was sie wirklich fühlt, völlig verschieden ist.

 



Kim Ee-sul, geboren 1975, begann ihre Schriftstellerkarriere im Jahre 2006. In deutscher Übersetzung liegt ihr Roman „Willkommen“ vor. Ihre Erzählung „Die Todesnachricht“ stammt aus dem Jahr 2011.

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