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Kultur

Lee Ho-cheol: „Der große Berg“

2020-02-04

ⓒ Getty Images Bank

Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass draußen alles verschneit war. Auf der Mauer vor dem Haus stand hübsch und ordentlich ein Paar weißer Männergummischuhe.

Meine Frau und ich waren wenig erfreut.

„Wer hat die denn dahin gestellt? Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt?“, meinte ich.

„Das wäre ein ziemlich geschmackloser Scherz“, erwiderte meine Frau verärgert.  

Ich nahm die seltsamen Gummischuhe, hob sie hoch und betrachtete sie von allen Seiten. Es war ein ganz gewöhnliches Paar Männerschuhe aus Gummi. Was an ihnen vielleicht ein wenig seltsam wirkte, war, dass sie schneeweiß waren, so, als seien sie eben gerade erst gewaschen worden.

Das machte die Schuhe irgendwie umso unheimlicher und ich war umso missgelaunter. 



In dieser Geschichte spielt die herkömmliche Vorstellung, dass ein Paar weiße Gummischuhe etwas Bedrohliches hat, ein wichtige Rolle. Die Dorfbewohner gruseln sich vor diesen Schuhen und werfen sie einander in den Garten, um sie loszuwerden.



„Und was machen wir jetzt damit?“, fragte ich. Ich hatte keine Lust, die Gummischuhe, die schon ganz verstaubt zu sein schienen, und sah sie mit schiefem Blick von der Seite an.

„Was wir damit machen? Lass gut sein, ich kümmere mich darum“, zischte meine Frau mit giftigem Gesichtsausdruck.

„Wie willst du sie wegwerfen?“, fragte ich.

„Weit weg. Nachher. Heute Abend“, antwortete sie.

„Vielleicht sollten wir sie in den Bergen wegwerfen?“, meinte ich.

„Ach was, wir machen es lieber so“, meinte sie. „Heute Abend nehme ich die Schuhe, setze mich damit in den Bus und bringe sie weit weg. Zumindest bis nach Dongbinggo.“

Ich sah meiner Frau, die zu allem entschlossen schien, ins Gesicht.

„Es liegt alles daran, dass der große Berg nicht zu sehen ist“, murmelte ich. 

Da sah auch meine Frau mich an, als sei ich nicht mehr ganz bei Sinnen.

„Was redest du denn da? Der große Berg? Was soll das heißen?“, fragte sie.



Professor Bang Min-ho:

Der große Berg ist sehr eindrucksvoll. Er steht für klare und ungehinderte Einsichten und einen Ausblick auf die Zukunft. Und er bietet den Menschen Geborgenheit. Wenn die Menschen diesen Schutz verlieren, wenn sie die Aussicht auf die Zukunft verlieren, kann es vorkommen, dass sie ein Paar weiße Gummischuhe, die vor ihnen stehen, anderen Leuten in den Garten werfen. Man denkt nur noch darüber nach, möglichst weit davon wegzukommen. Die koreanische Gesellschaft hat die Eigenschaften einer Gesellschaft, der ein solcher großer Berg fehlt. Der Autor wollte in seiner Geschichte vielleicht beschreiben, auf wie engem Feld die Menschen leben, in deren Welt es keinen großen Berg gibt.

 



Lee Ho-cheol (1932-2016) begann 1955 mit dem Schreiben und fand im Jahr 1962 Beachtung durch seine Erzählung „Panmunjeom“. Auf Deutsch liegen vor die Romane „Menschen aus dem Norden. Menschen aus dem Süden“, „Kleine Leute“ und „Heimatlos“. Seine Erzählung „Der große Berg“ erschien 1970.

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