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Kultur

Jeong Se-rang: „Ich gebe meine Stimme”

2020-04-14

ⓒ Getty Images Bank

Seung-gyun, der Protagonist der Geschichte, findet sich eines Tages plötzlich im Gefängnis wieder. Die Gründe, weshalb man ihn dort hingebracht hat, sind ihm schleierhaft, obwohl er schon seit einer Weile das Gefühl hat, dass da irgendetwas nicht stimmt.



Als erstes hatte er gehört, dass einer seiner Absolventen beim Militär einen tödlichen Unfall verursacht habe. Dabei war dieser Schüler doch immer so freundlich und zurückhaltend gewesen. Aber, wenngleich der Wehrdienst mittlerweile nicht mehr ganz so schlimm war wie früher, mochte sich beim Militär wohl so mancher zum Unguten verändern. Es war natürlich eine bittere Angelegenheit, aber allzuviele Gedanken darüber verschwendete er nicht. 

Doch danach kam der, der auf dem gemeinsamen Studentenausflug einen Kommilitonen in die Felsschlucht geschubst hatte, dann der, der in der Kneipe einen anderen im Streit mit einer zerbrochenen Bierflasche erstochen hatte, dann der, der seine Partnerin beim Geschlechtsverkehr erwürgt hatte, dann der, der sich der Gruppe angeschlossen hatte, die gemeinsam Selbstmord begehen wollte, und dann als Einziger am Leben geblieben war, dann der, der jemand anderen im Keller eingesperrt und zu Tode gefoltert hatte, dann der, der die Bombe ins Schließfach der U-Bahn-Station gelegt hatte, dann der, der das Gift in die Infusionsflaschen geleitet und damit die gesamte Krankenhaus zugrunde gerichtet hatte ... 

Die grausigen Nachrichten über seine ehemaligen Schüler raubten ihm schier den Schlaf, doch die Medikamente, die er sich verschreiben ließ, hatten ihn die Sache einigermaßen ertragen lassen. Doch bald darauf begannen auch die Schüler, die noch bei ihm Unterricht hatten, schlimme Dinge anzustellen. Es gab Tote bei einer Schlägerei. Und dann kam es sogar mitten im Unterricht zu Vorfällen, so, als zwei Schüler, noch bevor er als Lehrer in irgend einer Weise eingreifen konnte, einander mit einem spitzen Bleistift und einem plötzlich zersplitternden Putzbesen erstachen. 



Seung-gyun ist schockiert und ratlos angesichts der Mordtaten seiner Schüler. Der Gefängnisdirektor erklärt ihm nun, weshalb er hier ist. Man habe Seung-gyuns Stimme analysiert und herausgefunden, dass sie die Wirkung habe, das aggressive Potential eines Menschen zu wecken. Es sei deshalb eine Entfernung der Stimmbänder erforderlich ... 



Die Beleuchtung im OP drang durch seine geschlossenen Augenlider. Er dachte an Yeon-seon. Er würde sie treffen. Und dann würde sie wieder diesen rätselhaften Ausdruck auf ihrem rätselhaften Gesicht haben. 

Der OP-Tisch war kalt. Der Arzt war vielleicht gar kein Arzt, sondern jemand, den die Regierung geschickt hatte und der jetzt nur so tat, als führe er eine Operation durch, um ihn dann in Wirklichkeit umzubringen. Aber Seung-gyun lächelte. 

Er bekam die Betäubungspritze und der Arzt forderte ihn auf, rückwärts zu zählen. Da sagte Seung-gyun etwas Absurdes. Wie ein Einäugiger, der ausgerechnet von der Liebe besessen war. Wie eine Meerjungfrau, deren Entschluss sich im Schaum der Wellen auflöste. 

„Ich gebe meine Stimme.“ 




Jeon Se-rang, Jahrgang 1949 begann 2010 mit dem Schreiben und gewann seitdem verschiedene Literaturpreise. Die Erzählung „Ich gebe meine Stimme“ erschien 2010.

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