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Kultur

Jang Eun-jin: „Der abgelegene Ort”

2020-04-28

ⓒ Getty Images Bank

Es war der erste Abend nach unserem Unzug. Draußen pfiff der Wind, und jedesmal, wenn er die Fenster erzittern ließ, drang kalte Luft ins Zimmer. 

Meine jüngere Schwester und ich hatten das Licht gelöscht, uns jeweils mit zwei Decken zugedeckt und diese bis zu den Ohren hochgezogen. Im Umzugswirbel hatten wir ganz vergessen, Öl in die Heizung zu geben, und nun bibberten wir vor Kälte.

„Wie sind wir bloß hierhingeraten? Fensterscheiben aus Papier ... So etwas sehe ich zum ersten Mal.“

„Hm, ich auch.“



Zwei Schwestern, die einem Betrug zum Opfer gefallen sind, haben sich entschlossen, in einen abgelegenen Ort zu ziehen. Nicht einmal ein Bus fährt hier draußen. Sie bewohnen nun eines von insgesamt neun Zimmern in einem kleinen, alten Gebäude, das von den Vermietern aufgrund seine Grundrissen das quadratische Haus genannt wird. 



Als ich in der letzten Nacht auf den Hof trat, um zum Klo zu gehen, bemerkte ich, dass in allen neun Zimmern Licht brannte. Das heimelige Licht drang durch die Papierfensterscheiben nach draußen und erhellte den Hof, und mich befiel plötzlich ein friedvolles Gefühl von Sicherheit. 

In einem der Zimmer wurde etwas gekocht, aus einem anderen klang das Radio. Und wie ich so all die erleuchteten Zimmer sah, kam es mir so vor, als seien all die Menschen, die hier wohnten und einander doch nie getroffen hatten, miteinander vertraut. Menschen, die die gleiche Adresse hatten wie ich und nun nach getaner Arbeit wieder nach Hause zurückgekehrt waren. Während ich dies dachte, vergaß ich einen Moment lang, dass ich eigentlich zur Toilette hatte gehen wollen, stand dort mitten auf dem Hof und blickte mich um. Obwohl ich wusste, dass es neun Zimmer waren, zählte ich jedes der erleuchteten Fenster noch einmal mit dem Finger ab. Die Bewohner des rechteckigen Gebäudes schienen nur durch das Licht und durch die Geräusche zu erkennen zu geben, dass sie da waren. Durch die ins Licht getauchten Fenster und das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Fenster, das Geräusch der schlurfenden Schuhe und das Geräusch des Atems, das so leicht war wie die Fensterscheiben aus Papier. 



Literaturkritikerin Jeon So-yeong:

Das Leben der Schwestern ist hart und einsam. Aber in dem quadratischen Haus, wo man den Innenhof überqueren muss, kommt es zu Begegnungen mit den anderen Bewohnern. Obwohl jeder einen anstrengenden Alltag zu bewältigen und eigentlich gar keinen Freiraum hat, sich um das Leben anderer zu kümmern, kommt es dazu, dass die Schwestern immer wieder bemerken können, dass auch andere da sind, denen es ganz ähnlich ergeht, wie ihnen. Allein solch eine einfache Erkenntnis spendet bisweilen Trost. Das Bild der einsam dastehenden jungen Frau, die allein durch das Licht, das durch die Papierfenster auf den Hof fällt, Trost empfindet, ist wirklich schön beschrieben.  




Jang Eun-jin, geboren 1976, begann ihre literarische Laufbahn im Jahre 2004. Im selben Jahr gewann sie den Literaturpreis der Joongang-Zeitung. Ihre Erzählung „Der abgelegene Ort“, die mit dem Lee-Hyo-seok-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, erschien 2018.

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