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Kultur

Sung Sukze: „Der Mantel“

2020-09-01


Vaters Mantel entdeckte ich, als ich nach seinem Tod das Krankenzimmer aufräumte. Er hing im Kleiderschrank aus Sperrholz, dessen Tür etwas mühsam zu öffnen war, zusammen mit dem grauen Sommeranzug, dem Hemd und der himmelblauen Krawatte, die Vater getragen hatte, als er ins Krankenhaus gekommen war. Ein dunkelbrauner Mantel, der ziemlich dick aussah. Doch das täuschte, denn tatsächlich war er recht dünn und leicht und nicht allzu lang, weniger ein Overcoat, als eher ein ein Topcoat, den man gut im Frühling oder Herbst tragen konnte. Vater hatte da keinen Unterschied gemacht, er war kein Mensch gewesen, der solche Unterschiede gemacht hätte.  


In dieser Nacht hörte ich im Wohnzimmer plötzlich ein Geräusch. Dort schien sich etwas zu bewegen. Eilig lief ich ins Wohnzimmer und schaltete das Licht an. Es war niemand zu sehen, und doch war mir, als hätte sich etwas bewegt. Aber die Wohnungstür war fest verschlossen und das Wohnzimmer war zu klein, als dass sich hier jemand hätte verstecken können.

Da fiel mir der Mantel auf, der dort an der Kleiderstange hing. Er sah irgendwie anders aus, größer und beinahe wie neu. Aus irgendeinem Grund bekam ich schlechte Laune. Der Mantel wirkte so, als gehöre er einem lüsternen alten Sack, der mit seiner vermeintliche Vitalität herumprotzte. Die anderen Kleider, die dort neben dem Mantel schlaff und zerknittert an der Stange hingen, sahen aus wie Dorfbauern, die vom den Soldaten einfallender Truppen verdroschen und ausgeplündert worden waren.




Sung Sukze, geboren 1960, gehört als oftmals humorvoller Erzähler zu den vielgelesenen Autoren Koreas. Auf Deutsch erschien sein Erzählband „Die letzten viereinhalb Sekunden meines Lebens“. Seine Erzählung „Der Mantel“ stammt aus dem Jahr 2011.

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