Ein älterer Herr mit einem Stock in der Hand betritt langsam die Bühne. Es ist der über 80-jährige Akkordeonspieler Shim Sung-rak, der mit mühelos wirkenden Drück- und Ziehbewegungen seinem Akkordeon sanfte Melodien entlockt.
Shim Sung-raks Konzert “Lieder des erneut wehenden Windes” am 30. Juli war von besonderer Art. Als nämlich bekannt wurde, dass das Akkordeon des alten Musikers durch ein Feuer zerstört wurde, rief der Geschäftsführer von Paper Records Choi Sung-chul zu einer großen Spendenaktion auf.
Es war ein teures Instrument, etwa 3 Millionen Won wert. Wie sollten wir das erreichen? Wir versprachen ein Dankeskonzert, sollten wir den Betrag zusammenbekommen. Und das Wunder geschah. Das war kein gewöhnliches Publikum, das zum Konzert kam. Die Besucher wussten, was Shim durchgemacht hatte, und deshalb halfen sie mit, ein neues Instrument für ihn zu kaufen. Das Konzert selbst war etwas Besonderes. Als Shim sich nach dem Konzert vor den Zuschauern tief verbeugte, wurde er mit Minuten langem Stehbeifall gefeiert. Es war ein bewegender Moment. Da blieb kein Auge trocken. So etwas hatte ich bis dahin noch nie erlebt.
Das Konzert war eine Hommage an den Akkordeonspieler Shim Sung-rak, der in den letzten 60 Jahren so viele Stars und Sänger musikalisch begleitet hatte.
Während seiner musikalischen Laufbahn produzierte Shim Sung-rak rund 7.000 Lieder und veröffentlichte an die 100 Alben. Er ist auf vielen populären koreanischen Musikaufnahmen zu hören, nahm zahlreiche Filmmusiken auf und wurde immer wieder zu offiziellen Veranstaltungen des koreanischen Präsidialamtes eingeladen. Shim ist ein Urgestein der koreanischen Musikindustrie. Entdeckt hat er das Akkordeon als Jugendlicher.
Gegen Ende des Koreakrieges 1953 hielt sich der Oberschüler Shim oft in Plattengeschäften auf. Er lauschte der Musik und notierte sich die Texte. In dieser Zeit entdeckte er in der Innenstadt auch ein großes Musikgeschäft, wo er sich oft die Musikinstrumente anschaute. Schnell freundete er sich mit dem Besitzer an.
Beim jedem Besuch fragte mich der Besitzer, ob ich nicht für einen Moment auf seinen Laden aufpassen könne. Und ich antwortete: „Klar, kein Problem.“ Da saß ich dann und ließ meinen Blick umherschweifen. Plötzlich sah ich diese ausgestellten Akkordeons. Eines davon war nicht verpackt, denn es war ein gebrauchtes Instrument. Ich war neugierig, wie es sich anhört. Also zog ich daran, worauf es quietschende Geräusche von sich gab. Ich probierte es weiter aus und nach vielen Versuchen konnte ich am Ende darauf das zu jener Zeit beliebte Lied „Tränen von Mokpo“ spielen. Dann kam der Besitzer zurück und er sagte: „Hey, du bist wirklich gut!”
Bei jedem Besuch übte Shim auf dem gebrauchten Akkordeon. Auf dem Heimweg spielte er auf seinem imaginären Akkordeon weiter. Noten oder Bücher besaß er nicht. Alles musste er sich selbst beibringen. Dann eines Tages besuchte er mit dem Musikladenbesitzer und einem engen Freund in Busan einen nationalen Gesangswettbewerb, der im KBS ausgestrahlt werden sollte.
Dort gab es so viele Menschen. Auf der Bühne sah ich einen Akkordeonspieler und zwei Gitarristen, die ihre Instrumente stimmten. Doch sie kannten keine koreanischen Schlager! Sie hatten nur auf US-Militärbasen gespielt und konnten deshalb nur amerikanische Lieder spielen. Sie taten mir leid und ich hätte ihnen gern geholfen. Zu der Zeit kannte ich mich nämlich mit Schlagern gut aus. Nach der Show fragte mich der Musikladenbesitzer, ob ich nicht ab nächster Woche mit meinem Akkordeon dabei sein wolle. Ich konnte es kaum glauben.
Und so wurde der Oberschüler Shim für diese Fernsehshow als musikalischer Begleiter engagiert. Das Akkordeon lieh sich Shim vom Musikladenbesitzer.
Bei den Proben kamen Wettbewerbsteilnehmer auf mich zu und fragten, ob ich für sie nicht das Lied „Hwang Jin-yi, alte Liebe” oder „Hong Kong Lady“ spielen könnte. So half ich drei oder vier Sängern, ihre Lieder einzustudieren, was wiederum eine gute Übung für mich darstellte. An dem Tag gingen dann auch Gesang und Begleitung gut über die Bühne. Das war der einzige Tag beim KBS Gesangswettbewerb in Busan, beim dem alles glatt verlief.
Shim und die Sänger waren glücklich über die musikalische Zusammenarbeit. Außerdem verdiente Shim so etwas Geld, was ein zusätzlicher Bonus war.
Shim mag zwar eher zufällig in seinen Job gestolpert sein, aber sein Talent sprach sich schnell herum und so wurde er 1956 zum Militärkapellmeister berufen. In dieser Position wurde sich aber Shim schnell bewusst, dass er sich nun ernsthaft mit der Musik auseinandersetzen musste, worauf er sich ein Buch über Harmonielehre besorgte und es eigehend studierte.
Bis ein Uhr morgens blieb ich auf. In die Ecke eines Übungsraums hatte ich ein Bett und einen Tisch gestellt und studierte dann, bis ich müde wurde. Ich las mir das Buch immer wieder durch. Am Anfang konnte ich nicht einmal den Inhalt der ersten Seite verstehen. Aber nach mehrmaligem Lesen erkannte ich schließlich die Akkorde. Dann übte ich sie auf dem Akkordeon. Danach übte ich alle Tonleitern.
Als die Militärkapelle aufgelöst wurde, kehrte Shim nach Busan zurück. 1966 holte ein Plattenlabel ihn wieder nach Seoul zurück. Danach arbeitete er als Studiomusiker. Viele berühmte koreanischen Sänger wurden von Shim musikalisch begleitet. So arbeitete auch der koreanische Topstar und Sänger Choi Baek-ho lange Zeit mit Shim zusammen.
Shims Stil ist einzigartig. Seine Musik hat eine besondere Klangfarbe. Das liegt vielleicht an der Verletzung seines kleinen Fingers. Ich jedenfalls kann sofort heraushören, ob Shim spielt oder nicht. Wie er über die verschiedenen Tasten streicht, das macht ihm so schnell keiner nach.
Wegen einer Verletzung in seiner Kindheit kann Shim seinen kleinen Finger nicht bewegen. Außerdem ist er auf einem Ohr taub. Seiner Leidenschaft und seinem Talent hat das aber keinen Abbruch getan. 1969 veröffentlichte Shim ein Album mit dem großen koreanischen Saxophonisten Lee Bong-jo. Der Titel des Albums lautete “König der Lounge-Musik“.
Einmal sollte ich Lee Sang-ryeol begleiten, um ihm beim Üben zu helfen. Dafür nahm er meine Begleitung auf. Der Geschäftsführer von Asia Records hörte die Aufnahme und bemerkte, dass ich gut sei. Eines Tages rief er mich an und sagte: „Lass uns Lounge-Musik aufnehmen, mit dir und Lee Bong-jo.“ Ich fragte: „Mit Lee Bong-jo?“ Es war wie ein Traum. Das Album wurde aufgenommen und es wurde ein großer Hit. Zu dieser Zeit kostete eine Platte etwa 200 Won, doch unser Album wurde für 430 Won verkauft. Die Besitzer der Plattengeschäfte dachten, wir sind verrückt. Aber das Album hat sich am Ende gut verkauft.
Fast 50 Jahre war Shim in der Musikindustrie aktiv, bis er 2009 ein Soloalbum herausgab. Auf dem Album „Listen to the Wind Song“ ist auch der weltweit bekannte französische Akkordeonist Richard Galliano zu hören. Bei den Korean Music Awards wurde das Album mit dem Sonderpreis ausgezeichnet.
Auf dem Grand Mint Festival 2010 gewann Shim in den Kategorien “bester Moment” und “Beste Darbietung“. Im Juni des darauffolgenden Jahres gaben junge Musiker ihm zu Ehren ein Konzert. Die Sänger hatten auf eine Gage verzichtet und rund 2.500 Besucher fanden sich am 26. Juni 2011 im Seouler Olympiastadion ein, um Shim Sung-rak zu feiern.
Shim Sung-rak wird aber nicht nur von seinen Musikkollegen bewundert. Auch die breite Öffentlichkeit liebt ihn. Deshalb gab es auch viele Spenden, um das vom Feuer zerstörte Akkordeon durch ein neues zu ersetzen. Damit drückten sie ihre Dankbarkeit gegenüber einen alten Musiker aus, der sich mit Herz und Seele der Musik verschrieben und es zudem immer wieder geschafft hat, in den letzten 60 Jahren sein Publikum zu bewegen.
Ich kann ihnen nicht genug danken. Allen, die mitgeholfen haben ... Das hat mich dazu bewogen, trotz meines Alters mich so tief vor ihnen zu verbeugen. Einzig meine Tränen hielten mich davon ab, jedem zu danken.
Mit seinen 81 Jahren vergisst Shim gelegentlich die Noten, aber Shims Konzentration beim Spielen verblüfft einen immer wieder aufs Neue.
Shim Sung-rak spielt nur das Akkordeon. Das wird er bis zu seinem Ende tun. Und ich hoffe, er tut das noch für eine lange Zeit ... bis ein würdiger Nachfolger auftaucht. Es ist bedauerlich, dass er keine Schüler hat. Immer wieder sagt er, er könne nicht mehr spielen. Aber auf der Bühne wird er eins mit der Musik. Man kann sehen, dass er lebt, was er spielt. Er scheint in eine andere Welt zu versinken. In seinem Alter ist so ein Akkordeon keine leichte Last. Aber wenn er anfängt zu spielen, ist er wie verwandelt. Ich bin mir sicher, dass er noch lange für uns spielen wird. Am meisten bewundere ich seine Leidenschaft, auch in diesem hohen Alter ...