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Kultur

Lee Seung-woo: „Mit Büchern einschlafen“ (2)

2020-12-08

ⓒ Getty Images Bank

Heute: die zweite Hälfte der Geschichte. Der verstorbene Seong Mok-gyeong, der Mann aus dem Zeitungsartikel und der Protagonist – was haben diese drei Männer miteinander zu tun? 



„Er ist tot“, sagte meine Nachbarin.

Ihre Worte waren kurz und schlüssig. Für einen Moment dachte ich, sie sei eine Gerichtsmedizinerin, die seinen Tod erklärt.

„Er hat alleine gelebt und seinen Lebensunterhalt damit verdient, den Kleinbus für die Kunstschule zu fahren, die hier gleich um die Ecke liegt. Ich hatte ihn ein paar Tage lang nicht gesehen. Vor seiner Tür häuften sich Milch und Zeitungen, und regelmäßig kamen Postbenachrichtigungen an. Ich habe geklingelt, aber niemand hat geantwortet, und ih habe mir Sorgen gemacht. Ich auch bei der Kunstschule nachgefragt, aber sie hatten auch keine Ahnung. Sie waren sauer, dass er nicht zur Arbeit kam, ohne etwas zu sagen. Er ging auch nicht ans Telefon. Das hat mir Angst gemacht und ich habe die Wohnungstür vom Wachmann öffnen lassen. Und als ich hineinging… “

„War er tot", vollendete ich den Satz

Sie nickte.

„Mok-gyeong liebte diese Bücher. Sie waren seine Babys. Als ich seinen Bruder so reden hörte, wusste ich, dass er ihn nicht richtig behandelt hatte. Ich fühlte mich miserabel, fast so, als würde er Seong-mok selbst in die Verbrennungsanlage schicken.

Also sagte ich, ich würde die Bücher behalten, wenn er sie sowieso nur verbrennen würde. Ich bin keine begeisterter Leserin, aber ich fühlte mich nicht wohl mit dem Gedanken, dass diese Bücher zu Asche verbrannt würden. Der Bruder meinte nur, ich solle machen, was ich wolle, es sei ihm egal.“


Ich las die Bücher, als wären sie für mich bestimmt.

Zu Hause und im Büro, im Bus, im Restaurant und im Café las ich „Alles über Wein“: „Haben die Ägypter an Mythen geglaubt?“ und „Jugend ist irgendwo anders.“ Danach kamen „Über die Sonnenfinsternis“, „Reisen durch Sibirien“ und „Übersetzung des Geistes“.

Ich kam zu der Überzeugung, dass die Bücher eigentlich an mich geliefert wurden. Der Begriff Liefergenossenschaft des Buchhandels kam mir nicht mehr fremd vor und der Name Seong Mok-gyeong auch nicht.

Die Tatsache, dass ich, Han Jeong-tae, mich überhaupt nicht schuldig fühlte, Bücher gelesen zu haben, die an Seong Mok-gyeong geliefert wurden, bedeutete, dass Seong Mok-gyeong ein ununterscheidbarer Teil von Han Jeong-taes Bewusstsein geworden war. So fühlte ich mich mit der Liefergenossenschaft des Buchhandels und Seong Mok-gyeong sehr wohl.




Lee Seung-woo, geboren 1959, gewann im Jahre 1981 mit seinem Debütwerk „Porträt des Erysichthon“ den Nachwuchspreis von Korean Literature Monthly. Weitere Auszeichnungen (u. a. Daesan-Literaturpreis 1993 und Hwang-Sunwon-Literturpreis) folgten. Seine Erzählung „Mit Büchern einschlafen“ stammt aus dem Jahr 2001.

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