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Kultur

Choi Jin-young: „Steinmauern“

2022-03-01

ⓒ Getty Images Bank

Das Telefon vibrierte erneut. Ich kannte die Nummer nicht, also schaltete ich das Telefon ganz aus.

Ich habe die Firma der Polizei gemeldet, aber es änderte sich nichts. Die Fabrik lief weiter. Vielleicht kommt es eines Tages zu einer Razzia und alle Produkte werden zurückgerufen. Aber wird meine Berichterstattung etwas mit diesem „eines Tages“ zu tun haben?

Ich weiß nicht. Ich habe einfach einen Stein hinzugefügt.



Werde ich ein Whistleblower, eine Enthüllerin? Natürlich würden sie mich feuern. Wie würde ich dann mein Darlehen abbezahlen? Was wäre, wenn ich die Sache der Polizei meldete und später wegen einer falschen Anschuldigung verklagt würde?


Ich zerbrach mir so sehr den Kopf darüber, dass ich Migräne bekam. Ich hatte den ganzen Tag mit bangem Gefühl alles über Phthalat-Weichmacher im Internet recherchiert. Es war ein endokriner Disruptor und ein Karzinogen. Nicht nur in Spielzeug, sondern auch in diversen Haushaltsprodukten wurde es häufig nachgewiesen. Waren alle damit einverstanden? Konnte es sein, dass der Stoff gar nicht so schlimm war? Je mehr ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich ...


Heute weiß ich, wovor ich damals davonlief. Ich wusste, wann ich damals gelogen hatte und wofür ich mich schämte und wovor ich wegzulaufen versuchte, aber ich wollte nicht darüber nachdenken. Also entschied ich mich zu vergessen. Und da sich ähnliche Vorfälle mein ganzes Leben lang wiederholten, versuchte ich, immer mehr zu vergessen. 

Am Ende war ich eine Erwachsene, die schlechte Dinge gewohnt war, eine schreckliche Erwachsene, die wusste, dass etwas nicht stimmte, sich aber daran gewöhnt hatte, sich selbst vorzumachen, dass alles noch in Ordnung sei.




Choi Jin-young (*1981): „Steinmauern“

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