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Kultur

Hwang Sun-won: „Das Kalb“ (1961)

2022-05-17

ⓒ Getty Images Bank 

Das Kalb sah traurig aus. Seine großen runden Augen trieften und an seinem knochigen Hinterteil klebten angetrocknete Kotstücke.

„Wie erbärmlich. Das soll ein Kalb sein?“

Dol-i war zunächst enttäuscht und verärgert darüber gewesen, dass das Kalb, das sein Vater mit dem vielen über Jahre hin angesparten Geld gekauft hatte, so unansehnlich war. Aber nachdem sie es mit Bohnenschalen und Futter aus gehacktem Gras und Erbsen gefüttert hatten, begann es allmählich, die Gestalt eines anständigen Kalbes anzunehmen. 



Die feindlichen Truppen drängten ins Land und zogen durch die Ortschaften. Ein Haus im Dorf wurde von einer Bombe getroffen, wobei die ganze Familie ums Leben kam, und ein Dorfbewohner wurde von einem Bombensplitter so schwer am Bein verletzt, dass er seitdem nicht mehr laufen konnte.

Und die Soldaten nahmen all das Getreide, die Hühner, die Hunde und die Schweine und sogar die Kühe mit, wenn sie ins Dorf kamen.

Sie kamen auch zu Dol-is Haus, um das Kalb mitzunehmen. Dol-i hielt den Hals des Kalbes fest und ließ ihn nicht los. Er wurde mit dem Kalb ein Stück weit mitgeschleift. Ein Soldat hielt dem Jungen ein Gewehr entgegen, aber unbeirrt hielt Dol-i den Hals des Tieres umklammert. Der Soldat stieß einen Fluch aus und ging dann einfach weg.


Mit einem Male preschte das Kalb los, durchbrach den Zaun, und ranne auf sie zu. Es hatte sich von seinem Strick gelöst.

Es rannte den Hügel hinunter. Es lief die Böschung entlang und trat auf das Eis. Zum Glück lief es über den mit Sand und Asche bedeckten Teil des Eises, aber Dol-i befürchtete doch, dass es ausrutschen und hinfallen könnte. Er ging auf das Kalb zu.

Er hörte, wie seine Eltern nach ihm riefen. Aber als könnte er sie überhaupt nicht hören, ging er lächelnd weiter dem Kalb entgegen.

Nur noch ein kleines Stück, ein ganz kleines Stück ...

Das Kalb und Dol-i hatten einander fast erreicht.

Da brach das Eis. Das Kalb strampelte mit aller Kraft, um zu schwimmen und sich über Wasser zu halten, doch im eisigen Wasser gehorchtem ihm seine Gliedmaßen nicht mehr und nun geriet es immer weiter unter das Eis. Und Dol-i klammerte sich fest um den Hals des sinkenden Kalbes.




Hwang Sun-won (1915-2000): „Das Kalb“ (1961)

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