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Kultur

Jang Eun-jin: „Annas Tagebuch“ (2020)

2022-09-13

ⓒ Getty Images Bank

Anna war Glöcknerin der kleinen Kirche in unserem Dorf.

Diese Geschichte könnte jemanden an eine Figur aus dem Roman von Victor Hugo erinnern, den armen Quasimodo, der wegen seines hässlichen Aussehens im Glockenturm von Notre Dame eingesperrt war.

Aber unsere Anna, wie das Bild, das man bei der Vorstellung ihres Namens wohl hat, neigte mehr zu Esmeralda, der weiblichen Hauptfigur der Geschichte. Anna war eine kühle Schönheit, ein 11-jähriges Mädchen, das gerne mit seinem roten Fahrrad durch die Stadt fuhr.


Anna hat kein Tagebuch. Wenn sie ihren ganzen Kummer in ein Tagebuch fließen lassen wollte, hätte sie vielleicht die Hälfte des Tagebuchs für den Eintrag eines einzigen Tages verwenden müssen.

Obwohl sie kein Geld hatte, um sich ein Tagebuch zu kaufen, wurde ihr Drang, etwas zu schreiben, stärker, und sie entschied sich nun, für ihre Einträge kein Notizbuchs zu benutzen, sondern die Örtlichkeiten in unserer Stadt.

Unsere Stadt war alt und schmutzig, aber für Anna war sie ein Ort mit Möglichkeiten, so reich wie ein Weltatlas. Die Möglichkeiten lagen in den Wänden einer Mehrfamilienhauswohnung, auf Plastikparkbänken, an der Klimmzugstange auf dem Spielplatz, an Strommasten, an öffentlichen Müllcontainern, an Stahl- oder Glastüren. Überall dort, wo es glatte und ebene Oberflächen gab.


Aber etwas hatte sich definitiv verändert. Sie schrieb nicht mehr in ihr Tagebuch. Wir wussten nicht, ob sie ihre Energie oder ihr Interesse am Schreiben verloren hatte oder ob ihre Unfähigkeit, die Stadt zu erkunden, sie vom Schreiben abhielt. Auf jeden Fall wir waren enttäuscht.

Nach einer Weile entschieden wir uns, die Einträge in der Glocke nicht zu lesen. Wir hielten es für unsere letzte Pflicht, sie zu beschützen.

Der eigentliche Grund dafür, dass niemand versucht hat, sie zu lesen, war aber der, dass der Turm zu hoch war. Nur Gott kannte Annas Geheimnisse und ähnlich wie bei anderen Tagebüchern würde die Zeit schließlich alles auslöschen. So wie Anna eines Tages aus unseren Erinnerungen verschwinden würde.

Leider ist das alles, was wir über Anna wissen, und die Kirchenglocke hat danach nie mehr geläutet.




Jang Eun-jin (*1976): „Annas Tagebuch“ (2020)

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