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Kultur

Gu Gyeong-mi: „Schicht um Schicht“ (2011)

2023-01-03

ⓒ Getty Images Bank

„Ich will den Schnee sehen.“

Es war nicht Vaters letzte Wille, sondern einfach ein Wunsch. Nachdem wir nervös darauf gewartet hatten, dass Vater uns seinen letzten Willen mitteilen würde, waren wir nun etwas irritiert.

„Ich will den Schnee sehen.“

Er wiederholte sich.

„Es dauert noch eine ganze Weile, bis es schneit.“

„Und wahrscheinlich schneit es überhaupt nicht. Hier schneit es ja im ganzen Jahr so gut wie nie.“

Wir warteten darauf, dass Vater wieder sprach. Er nur noch kurze Sätze sagen.

„Wer nimmt mich mit?“ 

Nun war es klar. Er hatte uns also nicht zu sich gerufen, um seinen letzten Willen mitzuteilen, sondern um zu bekommen, was er wollte.



Die Wolken verdichteten sich, als wir nach Norden fuhren. Heute könnte es schneien. Wir alle warteten auf den Schnee. Vater zuliebe, aber jetzt spielte der Grund keine Rolle mehr.

„Vater, an welches Haus, das du gebaut hast, erinnerst du dich noch besonders?“, fragte die älteste Schwester

„An unseres“, antwortete er.

„Er meint nicht das, in dem wir jetzt wohnen, sondern das, das er für seine Eltern gebaut hat“, erklärte Mutter.

„Warum hat er denn unser Haus nicht gebaut?“

„Er war damit beschäftigt, für andere Leute zu bauen. Bei uns hat er nicht mal einen Nagel in die Wand geklopft. Das habe ich alles gemacht“, sagte Mutter.

Mutter schimpfte weiter über Vater.

„Ich sollte Mutter anrufen, wenn das Waschbecken bei mir zu Hause verstopft ist“, sagte die Drittälteste.



Wie durch ein Wunder fing es gerade an zu schneien, als das Gebirge Seoraksan vor dem Fenster auftauchte. Es war nicht nur Schneeregen oder Graupel, sondern es waren Schneeflocken so groß wie Zehn-Won-Münzen.

„Ist dein Wunsch also in Erfüllung gegangen?“, fragte die Älteste.

„Nachdem ich krank geworden bin, ging mir auf, dass wir noch nie einen Familienausflug gemacht haben. Das habe ich am allermeisten bedauert“, sagte Vater.

Niemand von uns konnte ihm antworten.

Der Schnee bedeckte schnell die Straße. Die kahlen Bäume wurden zu Schneemännern. Das Auto, in dem wir saßen, verwandelte sich ebenfalls in einen großen Schneehaufen. Überall lag Schnee. Schnee fiel unaufhörlich auf den Schnee und wieder auf den Schnee.

 



Gu Gyeong-mi (*1972): „Schicht um Schicht“ (2011)

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