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Kultur

Lee Gyeong-ja: „Der Graben der Einsamkeit“ (2011)

2023-04-04

ⓒ Getty Images Bank

Mutter war in ihrem Zimmer, in ihrem Arbeitszimmer. Lesen tat sie überall, Schreiben jedoch nur in ihrem Arbeitszimmer. 

Jeong-hwa fühlte sich, als würde sie wie ein leichtes Blatt zum Arbeitszimmer hin getragen, und spähte hinein. Sie konnte den Rücken ihrer Mutter sehen. Sie saß ein wenig gebuegt, die rechte Schulter nach innen gekrümmt, und einen Stift in der Hand. 

Jeong-hwa wünschte sich so sehr, dass ihre Mutter sie bemerkte, dass sie ihren Stuhl umdrehte und sagte: „Jeong-hwa, hast du Spaß gehabt? Komm mal her. Braves Mädchen“, und sie in den Arm nehmen würde. Aber ihre Mutter war hart wie Stahl. 



Es gab schon viele gute Tage. Wenn Mutter mit einer Geschichte fertig war, verwandelte sie sich in einen völlig anderen Menschen. Sie kochte in der Küche leckeres Essen, nahm Jeong-hwa mit zu ihren Freunden, und spielte dort den ganzen Tag mit ihr. Vielleicht waren solche Tage sogar häufiger. Nein, so war es nicht. Jeong-hwa hätte gern mehr Verständnis für ihre Mutter aufgebracht, aber sie konnte es nicht. Es gab mehr Tage, an denen ihre Mutter stundenlang in ihrem Zimmer saß oder für ihre Geschichten recherchierte, Tage, an denen ihre Mutter einfach anders war als andere Mütter.



In diesem Moment spürte er plötzlich ihre Anwesenheit. Sie schien ihm aus der Ferne zuzuwinken. Unter einem grünen Hügel befand sich ein tiefer, wassergefüllter Graben. Und in dem Graben befand sich ein kleinen Schuppen. Darin saß seine Frau. Da war sie, beinahe kleinwüchsig, nicht so weit weg, aber doch außerhalb seiner Reichweite.




Lee Gyeong-ja (*1948): „Der Graben der Einsamkeit“ (2011)

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