Im Spiegel der Zeit

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Die Verteidigung der Northern Limit Line

2015-10-27

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Am 29. Juni 2002 gegen 10.25 Uhr ereignete sich drei Meilen südlich der Grenzlinie zwischen süd- und nordkoreanischen Hoheitsgebieten im Gelben Meer, der Northern Limit Line, und 14 Meilen westlich der Yeonpyeong-Insel ein unerwarteter Zwischenfall. Ein nordkoreanisches Patrouillenboot tauchte im südkoreanischen Hoheitsgebiet südlich der De-facto-Seegrenze auf und feuerte plötzlich auf ein südkoreanisches Patrouillenboot. Das Seegefecht, das an jenem Tag ca. 25 Minuten dauerte, wird seit 2008 der Zweite Zwischenfall bei Yeonpyeong genannt. Es war eine sorgfältig geplante Provokation Nordkoreas, um die Gültigkeit der Northern Limit Line (LLN) im Gelben Meer zu sabotieren.

Das Gelbe Meer umfasst 380.000 Quadratkilometer und befindet sich zwischen Südkorea, Nordkorea und China. Das Zusammenlaufen kalter und warmer Strömungen sorgt für reiche Fischgründe mit rund 200 Arten von Fischen. Mit seinem Zugang zum Pazifischen Ozean ist es auch ein strategischer Schiffahrtsweg, in dem zahllose innerkoreanische Zwischenfälle stattgefunden haben. Die Northern Limit Line (NLL) im Gelben Meer wurde im Jahr 1953 festgelegt, als das Waffenstillstandsabkommen zwischen Süd- und Nordkorea vereinbart wurde. Professor Nam Seong-wook von der Abteilung für Nordkoreastudien an der Korea-Universität erzählt uns mehr dazu.

Der Koreakrieg wurde hauptsächlich von Nordkoreas Armee geführt, weil sie keine nennenswerten Seestreitkräfte besaßen. So waren südkoreanische und mit den USA alliierte Streitkräfte nach General McArthurs Landung in Incheon in der Lage, alle Inseln in den Gewässern vor Shineuiju in der Nähe der nordkoreanisch-chinesischen Grenze einzunehmen, sogar diejenigen direkt vor Pjöngjang. Aber dann begannen die Waffenstillstandsgespräche, und obwohl unter dem UNO-Kommando eine neue Grenze entlang der entmilitarisierten Zone gezogen wurde, kam keine Vereinbarung über eine maritime Abgrenzung zustande. So definierte das UNC einseitig die Northern Limit Line, basierend auf drei nautischen Meilen als Hoheitsgebiet entlang der nordkoreanischen Küste und um die vor der Küste gelegenen Inseln herum, die zu Südkorea gehören.

Seitdem dient das NLL als maritime De-facto-Grenze zwischen Süd- und Nordkorea. Aber der Norden, der die NLL als Grenze nicht erkannt hatte, führte seit 1973 immer wieder schwere Grenzverletzungen durch. Im Jahr 1974 versenkte die nordkoreanische Marine etwa ein südkoreanisches Fischerboot, das sich in internationalen Gewässern aufhielt, und kaperte ein anderes. 1977 erklärte Nordkorea einseitig eine Zone von 200 Seemeilen vor der Westküste als exklusives Militärgebiet. Doch die südkoreanische Regierung beharrte darauf, dass die NLL die eigentliche Demarkationslinie im Gelben Meer darstelle. Diese Position Seouls wurde auch in das innerkoreanische Grundlagenabkommen aufgenommen, das von beiden Seiten im Jahr 1991 verabschiedet wurde. Hier ist erneut der Nordkorea-Experte Professor Nam Seong-wook.

Das innerkoreanische Grundlagenabkommen wurde im Jahr 1991 im Hotel Walker Hill in Seoul unterzeichnet. Das Abkommen war ein sehr umfassendes Dokument, das sich mit fast allen Fragen beider Seiten befasste. Es gab in der Tat auch eine Klausel über eine Seegrenze, in der es hieß, dass die aktuelle NLL als eine maritime Abgrenzung angesehen werde und dass die beiden Seiten dieses Problem diskutieren würden, wenn beide Parteien das Thema zur Sprache brächten. Diese Klausel beinhaltete, dass der Norden die NLL als Seegrenze anerkenne. Falls diese Grenze ignoriert werden sollte, müsste auch der Bereich um Kaesong, wo sich der innerkoreanische Industriepark befindet, südkoreanisches Territorium sein, weil Kaesong, das vor dem Koreakrieg eine südkoreanische Stadt war, südlich des 38. Breitengrades liegt. Internationale Präzedenzfälle zeigen darüber hinaus, dass eine Grenze, die für eine beträchtliche Zeitspanne beibehalten wurde, ohne von einer Seite verletzt worden zu sein, als De-facto-Grenze angesehen wird. Daher behandeln auch internationale Gesetze die NLL im Gelben Meer als nicht verhandelbare Grenze zwischen Süd- und Nordkorea.

Trotz des innerkoreanischen Grundlagenabkommens provozierte Nordkorea am 15. Juni 1999 das erste innerkoreanische Seegefecht im Gelben Meer seit dem Koreakrieg. Sieben nordkoreanische Patrouillenboote überquerten die NLL und eröffneten mit Sturm- und Maschinengewehren das Feuer auf südkoreanische Marinefahrzeuge. Am Ende des 14-minütigen Zwischenfalls erlitten zwar die fünf südkoreanischen Patrouillenboote nur geringe Schäden, doch eines der nordkoreanischen Torpedoboote wurde versenkt und fünf weitere Boote schwer beschädigt. Dies war der erste Zwischenfall bei Yeonpyeong. Dazu Professor Nam Seong-wook:

Die erste militärische Auseinandersetzung in der Nähe der Yeonpyeong-Insel im Jahr 1999 hatte eine Menge mit einer Änderung in der nordkoreanischen Politik gegenüber der NLL zu tun. Seit den 1970er Jahren hatte Pyongyang behauptet, dass die NLL zum Nachteil des Nordens definiert worden war und dass sie geändert werden sollte. Die nordkoreanische Marine war jedoch schlechter ausgerüstet als die südkoreanische Marine, daher führten Nordkoreas Bestrebungen, die Demarkationslinie zu revidieren, zu keinen physikalischen Ergebnissen. Aber 1999 erließ Kim Jong-il einen Befehl, die NLL zu annullieren, was zum Ausbruch des ersten Seegefechts von Yeonpyeong führte. Es war Nordkoreas Versuch, durch militärische Provokationen im Gelben Meer die innerkoreanischen Beziehungen zu torpedieren und die NLL unbrauchbar zu machen. Sie verwandelten das ruhige Meer des Friedens in eine sturmgepeitschte See der Spannungen und Konflikte.

Seit dem ersten Zwischenfall bei Yeonpyeong gab es nur wenige Übergriffe von nordkoreanischen Marineschiffen und Fischerbooten. Im Jahr 1999 gab es 70 Vorfälle, wohingegen nur 15 Übergriffe im Jahr 2000 und 16 im Jahr 2001 registriert wurden, ohne dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Dann wagte Nordkorea im Jahr 2002 wieder eine handfeste militärische Provokation. Hier ist erneut Professor Nam Seong-wook von der Korea-Universität.

Pyongyang wartete nur auf die Chance, die Niederlage aus dem ersten Yeonpyeong-Gefecht zu rächen. Zu der Zeit hatte die Kim Dae-jung-Regierung im Süden die Bewachung des Nordens etwas gelockert. Auch bejubelte die ganze Nation damals die Fußball-Weltmeisterschaft, das ganze Land taumelte regelrecht vor friedlicher Freude. Das nordkoreanische Militär musste geahnt haben, dass Südkoreas Aufmerksamkeit nicht mehr voll auf die Sicherheit ausgerichtet war, und startete einen Blitzangriff. Auf diese Weise brach das tragische zweite Gefecht bei Yeonpyeong aus, dem sechs südkoreanische Marinesoldaten zum Opfer fielen.

An jenem schicksalhaften Tag, dem 29. Juni, war die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf das sogenannte kleine Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 gerichtet, wo Südkorea abends in Seoul gegen die Türkei spielen sollte. Ein südkoreanisches Marineboot, das auf der Insel Yeonpyeong stationiert war, patrouillierte in den Fischgründen südlich der NLL. Um 9:54 Uhr überquerten plötzlich zwei nordkoreanische Patrouillenboote die NLL und drangen in südkoreanisches Hoheitsgebiet ein. Entsprechend den Gefechtsregeln der südkoreanischen Marine wurden erst Warnmeldungen gesendet, um die nordkoreanischen Boote zur Umkehr zu bewegen. In dem Moment sahen die Matrosen der südkoreanischen Chamsuri Nr. 357, wie die Nordkoreaner mit ihren Waffen direkt auf sie zielten. Kwak Jin-sung und Lee Hae-yong, zwei Offiziere auf der Chamsuri damals, erinnern sich an den Vorfall.

Kwak: Zu anderen Zeiten drehten nordkoreanische Schiffe ab, wenn wir unsere Warnungen abgaben, aber an diesem Tag fuhren sie einfach parallel zu uns weiter. Sie fuhren mit der gleichen Geschwindigkeit wie wir und hatten bereits ihre Waffen auf uns gerichtet.

Lee: Ich sah, dass alle Waffen auf der Seite des Bootes Yauf die Chamsuri ausgerichtet waren. Ich erinnere mich, dass ich mich selbst fragte: „Was machen die da?“

---------Narration----------

Dann, um 10:25 Uhr, eröffnete das nordkoreanische Boot mit seinen 85-Millimeter-Kanonen plötzlich das Feuer. Die von den nordkoreanischen Booten abgefeuerten Schüsse trafen das Ruderhaus des südkoreanischen Fahrzeugs, das sofort in Flammen aufging. Die südkoreanischen Matrosen versuchten einen verzweifelten Gegenschlag. Der erste Offizier an Bord, Lee Hee-Wan, erzählt uns mehr über die aussichtslose Lage damals.

Ich hörte einen lauten Knall, so laut, dass meine Ohren schmerzten. Dann erbebte das ganze Boot. Ich sah Kapitän Yoon Young-ha plötzlich nach hinten fallen. Er hatte direkt rechts neben mir gestanden und nach vorn gesehen, aber ganz plötzlich fiel er rücklings aufs Deck. Ich bekam einen Schuss ins rechte Bein und fiel auch hin. Ich dachte, dass mein linkes Bein nicht getroffen worden war, aber Augenblicke später sah ich, dass es gebrochen war. So konnte ich nicht mehr aufstehen.

Zwei weitere südkoreanische Patrouillenboote und zwei Korvetten kam zur Rettung der Chamsuri und eröffneten das Feuer auf die nordkoreanischen Boote. Als ein nordkoreanisches Gefährt in Flammen aufging, trat die nordkoreanische Flottille den Rückzug an, und nach 25 Minuten war das ganze Gefecht bereits zu Ende. Bei der blutigen Auseinandersetzung kamen sechs südkoreanische Seeleute ums Leben, angeführt von Kapitänleutnant Yoon Young-ha, und 18 weitere wurden verwundet. Die beschädigte Chamsuri sank später, als sie in den Hafen geschleppt wurde. Auf der anderen Seite war ein nordkoreanisches Patrouillenboot teilweise zerstört und waren mehr als 30 Seeleute getötet oder verletzt worden. Professor Nam Seong-wook erklärt.

Die Gründe für die hohen Verluste Südkoreas waren Nordkoreas gründliche Vorbereitung und die überhastete Reaktion der südkoreanischen Marine. Es dauerte auch zu lang, bis weitere Schiffe der südkoreanischen Marine dem angegriffenen Boot zu Hilfe kommen konnten. All diese Faktoren trugen dazu bei, dass sechs südkoreanische Seeleute ihr Leben verloren. Doch Berichten zufolge hat Nordkorea noch mehr Verluste erlitten.

Die Trauerfeier für die jungen Seeleute war am 1. Juli 2002. Hier sind einige Familienmitglieder der verstorbenen Soldaten.

Seo: Ich dachte erst, das kann nicht wahr sein. Aber als ich nach Hause kam, wurde mir klar, dass es wirklich passiert ist.

Kim: Er wartete auf mich, ich sollte ihn in ein paar Tagen abholen. Aber dann war er für immer weg.


Die Familien der toten Soldaten waren nicht die einzigen, die den Verlust beklagten. Die ganze Nation weinte und trauerte mit ihnen. Die Marine erinnert an ihre Opfer durch die Benennung von Booten und Schiffen nach den sechs im Kampf getöteten Seeleuten.

Unterdessen zog die südkoreanische Marine aus den schweren Verlusten während des zweiten Seegefechts im Gelben Meer ihre Lehren und änderte die Gefechtsregeln, um weitere tragische Vorfälle zu verhindern. Anstelle von fünf Schritten bis zum scharfen Waffeneinsatz sind es jetzt nur noch drei Schritte: Ausgabe von Warndurchsagen, Warnschüsse und gleich darauf gezielte Schüsse. Doch das schien die Nordkoreaner nicht von weiteren Überquerungen der NLL abzuschrecken. Am 9. November 2009 ignorierte ein nordkoreanisches Kanonenboot erneut die NLL und provozierte ein Gefecht, und im darauf folgenden Jahr beschoss Nordkorea die Insel Yeonpyeong und stürzte die koreanische Halbinsel in den Zustand eines Beinahe-Krieges.

Die Northern Limit Line als Teil des Waffenstillstandsabkommens von 1953 war die Ursache für viele Zwischenfälle im Gelben Meer und wird dies voraussichtlich auch bleiben. Bis zum Friedensschluss zwischen Süd- und Nordkorea bleibt es eine Aufgabe Südkoreas, die NLL mit der gleichen Entschlossenheit zu verteidigen, die seine Marine-Soldaten während des Zweiten Gefechts von Yeonpyeong gezeigt haben.