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Kultur

Shin Ju-hui: „Kleine Arche“ (2023)

2023-07-25

ⓒ Getty Images Bank
„Okay, nehmen wir an, da ist eine Blume.“
„Was?“ Honeycookie sah mich verständnislos an.
„Sagen wir, da sind eine Blume, eine Biene und ein Schmetterling. Die Blume macht ihre Arbeit, die Biene macht ihre Arbeit, und der Schmetterling macht seine Arbeit. Die gehen frühmorgens aus dem Haus und nehmen abends den letzten Zug nach Hause. Aber was ist nun mit dem Honig? Der Honig gehört doch weder der Biene noch dem Schmetterling, oder? Wohin geht der Honig dann?“, fragte ich.
„Na hör mal, was soll das? Ich weiß nicht, wo der Honig hingeht. An den Imker wahrscheinlich.“
Honey Cookie machte ein ratloses Gesicht.
Da dachte ich: Was rede ich denn da bloß? Meine Freundin Jinju war weg, und ich machte mir solch unsinnige Gedanken.
In dem Moment hatte ich das Gefühl, als verpasste mir Jinju, die so plötzlich verschwunden war, einen Schlag auf den Hinterkopf.
Jinju, warum und wohin bist du verschwunden? Wolltest du plötzlich keine Biene oder kein Schmetterling mehr sein? Der ganze Honig, den du hattest, ist verschwunden? Warum?”


 „Jinju bittet mich ständig, nach Uyuni zu kommen“, erklärte ich und amüsierte mich über den Ausdruck von Neid in Honeycookies Gesicht.
Ein paar Tage später erhielt ich einen Anruf von der Personalabteilung.
„Ich habe gehört, dass Sie sich eine Auszeit nehmen wollen?“, sagte der Personalleiter.
„Was? Ich?“
„Ich habe gehört, dass Sie ins Ausland gehen wollen. Und dass eine Freundin von Ihnen einen Job in Uyuni bekommen hat. Ich denke, Sie haben eine gute Entscheidung getroffen, es geht schließlich nichts über den richtigen Ort.“
Honeycookie hatte allen erzählt, dass ich nach Uyuni gehen würde.
Da resignierte ich und beschloss tatsächlich, nach Uyuni zu fahren. 


Das Kind winkte mir zu. Als sie in die Pedale trat, lastete das Gewicht des Salzes sicher schwer auf ihren Füßen. Sie fuhr in die Wüste hinaus, den Rücken der untergehenden Sonne zugewandt.
Keines der Worte, die mir im Kopf herumschwirrten, war leicht auszusprechen. Ich hielt den langen Schatten der Frau auf meinem Foto fest.
Ich wollte ihnen etwas zeigen, statt etwas zu sagen. Jinju und Honeycookie. Ich wollte sie dazu bringen, vor dem letzten Stolperstein zurückzutreten, innezuhalten und über den Rand zu schauen, in der Hoffnung, dass sie es am Ende selbst tun würden.



Shin Ju-hui (*1977): „Kleine Arche“ (2023)

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