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Kultur

Lee Kyung-ja: „Kongjwi Maria“ (2007)

2023-08-08

ⓒ Getty Images Bank
Als sie in der Fabrik arbeitete, nannte man sie „Kongjwi“, das „Aschenputtel“, die treue Tochter aus dem Kindermärchen. Wenn sie in den Ferien nach Hause kam, hatten sogar die Alten im Dorf sie freundlich Kongjwi genannt.
Ihre drei älteren Brüder bemühten sich alle um eine höhere Ausbildung, und selbst als ihre jüngere Schwester einen Vorschuss von ihrer Arbeit als Dienstmädchen erhielt, um die Studiengebühren zu bezahlen, zählten die Brüder, die immer mehr wollten, immer noch auf Kongjwis Hilfe. 
Am Zahltag kam Marias Mutter zum Eingangstor der Fabrik und nahm ihren gesamten Monatslohn entgegen. Auch an den Tagen, an denen sie nicht bezahlt wurde, besuchten ihre Brüder in Schuluniform sie abwechselnd und bettelten um Hilfe. Sie lieh sich immer hier und da Geld, damit ihre Brüder mit einem Lächeln wieder davongingen. Niemand wusste, wie befriedigend das war. Niemand wusste, wie sehr sie sich freute, wenn ihre Brüder ihr versprachen, sie dereinst im Luxus leben zu lassen, wenn sie später erfolgreich wären.  


Während Maria der rauen, zitternden Stimme der alten Frau zuhörte, erinnerte sie sich an ihre älteren Brüder, an ihren ersten Mann, von dem sie sich nach weniger als hundert Tagen hatte scheiden lassen, an ihre Tochter Gyeong-ah, die sie bei ihrem Mann gelassen hatte, und an Andrew, mit dem sie sich auf Koreanisch gestritten und geflucht hatte, weil sie kein Englisch konnte. Sie erinnerte sich an ihren zweit- und drittältesten Bruder, die sie nach Amerika eingeladen hatte, die sie aber schlugen und gewalttätig wurden, als ihr Leben als Einwanderer schwierig wurde, und die Angst hatten, dass jemand herausfinden könnte, dass es ihre Schwester, die Prostituierte, gewesen war, die ihnen ihr jetziges Leben ermöglicht hatte. 
Maria schüttelte den Kopf. Das waren alles keine guten Gedanken. Je mehr sie darüber nachdachte, desto größer wurde die Wunde. 


Er beendete sein Interview mit der Aussage, dass der Grundstein für die 100-jährige Geschichte der koreanischen Einwanderung den Opfern der Frauen zu verdanken sei, die man abschätzig als "yanggongju" bezeichnete. Während seines einminütigen Interviews wurden verschiedene Szenen rund um die amerikanischen Armeestützpunkte nach dem Koreakrieg gezeigt – der Anblick stark geschminkter koreanischer Frauen und amerikanischer Soldaten, die eingehakt durch die Straßen gingen oder in Armeestützpunktstädten wie Euijeongbu, Dongducheon oder Pyeongtaek eng umschlungen miteinander tanzten. Das alte Filmmaterial, das unmittelbar nach dem Krieg aufgenommen wurde, war in Schwarz-Weiß, und die Filme aus der Zeit des Wirtschaftsbooms, als Korea alles tat, um im Ausland Geld zu verdienen, waren in Farbe. Es ist schwer zu sagen, ob es ein Glück war oder nicht, dass Maria diese Nachrichten nicht sah.
Eine Zeit lang aber ging es im Seniorenzentrum nicht um die Einwanderungsgeschichte, sondern darum, herauszufinden, welche Frau aus der Stadt mit der Militärbasis stammte. 
Marias Enttäuschung und Wut auf ihre Brüder hatten keine Grenzen gekannt. Doch nachdem sie von ihren Brüdern zurechtgewiesen worden war, hatte sie sich gefühlt, als wäre sie von einer langen Krankheit genesen. Sie spürte, dass ihr Kopf klarer wurde. Doch schließlich wurde sie gleichgültig.



Lee Kyung-ja (*1948): „Kongjwi Maria“ (2007)

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