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Kultur

Jeong Seon-im : „Yokata“ (2022)

2023-12-26

ⓒ Getty Images Bank
Als ich letzten Donnerstag Hangeul mit Jin lernte, bekam ich einen Anruf. 
„Spreche ich mit Frau Seo Yeon-hwa?“, fragte die Stimme. „Sie sind dieses Jahr einhundert Jahre alt geworden, richtig?“
Die Anruferin, die sich als Autorin einer bekannten Radiosendung ausgab, konnte die Neugier in ihrer Stimme nicht verbergen. 
„Sie haben einen wunderschönen Namen“, sagte sie.
Du meinst, für eine hundertjährige Dame, dachte ich zynisch. Egal wie ich hieß, ich war immer noch eine alte Dame. Auf dem Markt wurde ich von allen „Großmutter Yokatta“, weil ich fast alle meine Sätze mit dem japanischen Wort 'Yokatta' beendete.


Der Name Seo Yeon-hwa, der Name, der für eine hundertjährige Frau zu elegant klang, hatte meiner älteren Schwester gehört. Sie war ein paar Monate nach meiner Geburt gestorben. Nachdem ich von meiner Schwester erfahren hatte, musste ich noch einige Jahre immer an sie denken, wenn jemand meinen Namen rief. Jedes Mal, wenn ich "Ja" antwortete, stellte ich mir vor, wie sie auf diesen Namen antwortete. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihr Alter und ihren Namen. 

Seo Yeon-hwa. Früher glaubte ich, dass der Grund, warum der Tod meiner Schwester nicht gemeldet und meine Geburt nicht registriert wurde, der war, dass mein Vater sie nicht gehen lassen wollte.
Ich hatte meinen Vater einmal auf dem Salzfeld besucht, um ihm das Mittagessen zu bringen. Er unterhielt sich gerade mit seinem Kollegen.
„Es war mir zu anstrengend. Ich war damit beschäftigt, meinen Lebensunterhalt zu verdienen“, hatte er damals gesagt.
Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, als ich ihm die Brotdose überreichte, aber ich erinnere mich deutlich an die Wärme des Frühlings. Auch daran, dass die Sonne zu hell war und ich wollte, dass die Dämmerung so schnell wie möglich eintrat.


Ich verkaufte alle Bücher aus dem Arbeitszimmer und habe seitdem nie wieder zurückgeblickt. Ich vergaß die Dinge, die das Meer mir wegnahm, und verdiente meinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf der Dinge, die das Meer mir erlaubte. Immer, wenn mein Name aufgerufen wurde, geriet ich in Aufregung, wie die Krabben, die aus ihren Löchern krochen. Aber ich konnte immer in mein Loch zurückkehren, weil sich niemand nach mir erkundigte.
Zum Glück. Yokatta, yokatta.
Die Flut kommt. Das Wasser strömt herein. Ich möchte den heutigen Tag in Stücke reißen, so dünn wie ein Blatt Papier, und auf den Morgen warten. Ich muss nach Hause gehen, bevor die Sonne untergeht, bevor die bläuliche Dunkelheit kommt, bevor ich die Augen schließe und den Schatten jage. Aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.



Jeong Seon-im (*1978): „Yokata“ (2022)

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