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Lifestyle

Über das Zusammenleben. Oder: Von willkommenen und weniger willkommenen Mitbewohnern

2018-10-27

Hörerecke

ⓒ Getty Images Bank

Während meines ersten Koreaaufenthalts im Jahre 2000 lebte ich ein paar Monate lang in einer kleinen Einzimmerwohnung im Halbkellergeschoss zur Untermiete in einer Art Zweier-WG. Mein Mitbewohner hieß Sun-woo, und obwohl sein Zimmer, zu dem eine kleine Kochnische und eine Toilette gehörten, wirklich sehr eng war, hatte er mich gleich überredet, bei ihm einzuziehen. Ich zögerte nicht lange, denn Sun-woo war sehr nett und nette Leute wollte ich schließlich kennenlernen. 


Als ich bei ihm einzog, meinte er strahlend: „Toll, dann sind wir ja jetzt zu dritt!“ „Zu dritt? Wieso denn das?“ Das Zimmer war für zwei schon eng genug und ich befürchtete schon das Schlimmste. Sun-woo kicherte und meinte: „Na ja, du, ich und – Gaeguri!“ Und dann zeigte er auf einen riesigen Frosch aus Plüsch, ein wahres Monstrum, das sich mit feistem Grinsten auf dem Bett breitmachte.  


Sun-woo studierte an der Seouler Fremdsprachenuniversität Deutsch und Englisch, aber Deutsch sprach er im Grunde so gut wie gar nicht, so dass wir uns immer auf Koreanisch unterhielten. Dies kam mir sehr zu Gute, denn ich lernte von ihm eine ganze Menge. Wenn er sich mit mir unterhielt, sprach er immer laut, langsam und deutlich und erklärte mir mit Engelsgeduld, wenn ich wieder einmal etwas nicht verstanden hatte. Nur ab und an fragte er mich seinerseits um Rat, beispielsweise wenn er seine Deutschaufgaben machte, mit einem haarsträubenden Deutschlehrbuch, das aus den 60er Jahren zu stammen schien und in dem die Hauptpersonen Walter Braun und Inge Schmidt hießen, stets mit Hut und Regenschirm spazieren gingen und einander – obwohl sie beide junge Studenten waren – unbeirrbar siezten. Ich fragte mich, was die koreanischen Studenten, die mit diesem Lehrbuch arbeiten mussten, wohl für ein Deutschlandbild haben mochten. Ich konnte es ihm nicht verübeln, dass er nicht besonders viel Lust auf deutsche Grammatik hatte. Er interessierte sich nicht für Walter Braun und Inge Schmidt, sondern für Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl. Später wollte er selbst gerne Schriftsteller werden und schrieb fleißig Texte. Sun-woo war ein sehr liebenswürdiger Mensch, der mir manchmal vorkam wie ein weiser Philosoph und manchmal wie ein kleines Kind.

Man kann sich wohl denken, dass eine Zweier-WG auf so engem Raum – es gab sogar nur ein einziges Bett, zum Glück aber breit genug für zwei – nicht immer einfach war. Aber ich fand es trotzdem großartig, und wenn ich die alten E-Mails anschaue, die ich damals in die Heimat geschickt habe, kommen mir viele Erinnerungen an diese schöne Zeit. 


11. Juni

Hallo Mama und Papa, danke für Eure Mail. Also, Sun-Woo ist wirklich ein lustiger Kerl. Gestern hat er sich den Alpen-Schlager „Ich bin der Anton aus Tirol“ aus dem Internet heruntergeladen – aber nicht, dass ich ihn darauf gebracht hätte! – und jetzt singt er den ganzen Tag „Ihi bin so sjuöen, ihi bin sso tol, ihi bin dea Anton ausü Tirol!“, und ich ahne, dass sein diesbezügliches Textverständnis vermutlich zu wünschen übrig lässt, was mich im Falle dieses fürchterlichen Liedes aber beinahe eher beruhigt. Nachts sitzt er meist vor dem Computer und chattet, hört laute Musik oder spielt Computerspiele. Manchmal nervt mich das ein bisschen, denn schließlich liege ich einen Meter weiter im Bett und möchte schlafen. Aber man kann sagen, was man will, er ist er doch der liebste und freundlichste Mensch, den man sich nur denken kann. Manchmal fahren wir gemeinsam auf seinem Motorroller zur Uni oder durch die Stadt.


13. Juni

Diese Halbkellerwohnung hat wirklich nicht nur Vorteile. Eben war der Klempner hier und meinte, dass uns in der Regenzeit wahrscheinlich die ganze Hütte vollläuft. Wir freuen mich schon! So'n halben Meter hoch Wasser in der Wohnung ... Das wär's jetzt bei der Affenhitze.


25. Juni

Jetzt bin ich zu Hause alleine. (Sun-Woo ist gerade unterwegs.) Jeden Tag schauen die beiden kleinen Nachbarskinder (etwa 2 und 3 Jahre alt) zur Tür oder zum Fenster herein und rufen voller Begeisterung „Adsoshi!!! Adsoshi!!! (Onkel, Onkel!!!)“, womit ich gemeint bin. Die beiden finden mich offensichtlich einfach bestaunenswert und sobald sie mitkriegen, dass ich losgehe (die Nachbarstür ist meistens auf), kommen sie angelaufen und fragen "Adsoshi, odi ga??" (Onkel, wo gehst du hin?) und wenn ich abends zurückkomme, werde ich genauso freudestrahlend wieder empfangen und man klettert an mir hoch. Die arme Mutter, eine Japanerin, hat immer große Mühe, die Kleinen wieder an den Abendbrottisch zu bewegen, denn gegen das Argument "Omma, adsoshiga itchi!!!" (Aber Mama, der Adsoshi ist doch da!!!) kommt sie nicht recht an ... Ich muss dann immer selber sagen, dass sie mal brav weiter ihren Reis essen sollen ... Irgendwie schon Wahnsinn, ohne irgendetwas tun zu müssen, so super-beliebt zu sein. Ich muss noch nicht mal was sagen, ich muss nur einfach da sein.


22. Juni

Leicht genervt bin ich mittlerweile davon, dass Sun-Woos nächtliche Computersessions bis halb fünf zur Regel werden und an schlafen wirklich kaum noch zu denken ist. Er meint immer, wenn er den Ton ein klein wenig leiser dreht, tut er mir schon einen Riesengefallen ... Und von Kopfhörern hält er grundsätzlich nichts. Wenn wir gleichzeitig zu Hause sind, kann ich praktisch überhaupt nichts machen, nicht lernen, nicht lesen. Das ist eben der Nachteil dieser WG. Ich komme meist abends um 11, wenn die Lernräume an der Uni zumachen, nach Hause und weiß, bis halb fünf, wenn ich Glück habe nur bis drei, muss ich noch durchhalten, bis ich endlich schlafen kann. Ich sag Sun-Woo natürlich, dass ich das irgendwie nicht so super finde. Dann schaut er mich fröhlich an, nickt freundlich, sagt „Mianhae! Sorry!“ und macht ungestört weiter.


Musik: 슬기둥 저녁 무렵부터 새벽이 오기까지 


Das war „Von der Abenddämmerung bis zum Anbruch des neuen Tages“, eines des bekanntesten Stücke der Gruppe Seulgidoong und auch ohne den etwas ironischen Kontext, in den ich dieses melancholische Haegeum-Solo hier stelle, ein Stück koreanische Musik, das mir schon damals sehr gut gefallen hat. 


27. Juni

Na, alles klar? Lust auf 'ne kleine Schauergeschichte? Auf geht's! Es war gestern nacht, wohl so gegen halb eins. Sun-Woo saß noch vor dem Computer und spielte, um sich von der 24-Stunden-Live-Übertragung des Nord-Södkorea-Gipfeltreffens in Pjöngjang und dem recht ermüdenden Rahmenprogramm mit den ganzen Volkstänzen zu erholen, sein Lieblingsgame „금붕어를 괴롭히기“ (="Goldfisch quälen"). Bei diesem Game geht es schlicht und ergreifend darum, einem im Wasserglas befindlichen Zeichentrickgoldfisch per Mausklick verschiedene Arten der Tortur zuzufügen (z. B. das Wasser zum Kochen oder zum Gefrieren zu bringen, den Goldfisch andauernd gegen das Glas stoßen zu lassen oder ihn als Höhepunkt eine tickende Zeitbombe verschlucken zu lassen, woraufhin nach einigen Piepsignalen und ahnungslos-freundlichem Augenzwinkern des Tieres schließlich dessen eindrucksvolle Explosion erfolgt ...) Jedes Mal, wenn der Goldfisch mal wieder dabei war zu explodieren, kugelte sich Sun-woo vor Lachen. Chchchchchrrr!!! Wenn ich ihn so höre und sehe, fühle ich mich immer ein bisschen an Ernie aus der Sesamstraße erinnert. Und ich komme mir jedes Mal vor wie Bert, der humorlose Spielverderber. Die Spaßbremse. Der deutsche Kniesepeter. An Schlafen war meinerseits jedenfalls nicht zu denken und deshalb entschied ich mich, erstmal aufs Klo zu gehen. Ich trat ins Badezimmer und schaltete das Licht an, eine kleine, nachlässig an der Decke befestigte, ständig flackernde Glühbirne. Auf dem Boden lagen noch die Aschereste von Sun-Woos letzten Zigarretten, die er immer einfach auf dem Duschboden auszudrücken pflegt, weil man das dann ja einfach wegspülen kann, was er für praktisch hält. Der ganze Raum machte insgesamt mal wieder einen wenig einladenden Eindruck. Ja, dann wollen wir mal, dachte ich mir und visierte die Kloschüssel an. Mich durchfuhr ein leichter Schreck, und dann stieg ein doch wesentlich intensiveres Gefühl, nämlich „Ekel pur“ in mir auf. In der Kloschüssel, vom fahlen Licht der Funzel beleuchtet, schwamm, hin und wieder ein leichtes Plätschern verursachend, aber schon eher tot als lebendig, eine etwa mittelgroße, grau-braun gefärbte, zottig behaarte Ratte, die mich aus großen schwarzen Augen anglotzte. Uuuuuaaaaaarch, wie niedlich, dachte ich mir und trat erstmal einen Schritt zurück ... Dann fragte ich Sun-Woo, ob er sich mal kurz von seinem Goldfisch trennen könne. (Im Bad gab es schließlich auch Interessantes aus der Tierwelt zu beobachten ...) Welch ein Spaß, seine Reaktion zu sehen! Sun-Woo tendiert in solchen Momenten des Entsetzens immer dazu, im Zimmer auf und ab zu hüpfen und in akzentbelastetem Englisch Exklamationen wie „Oh my god, oh my god“ von sich zu geben. Schließlich sind wir dann aber nicht seiner ursprünglichen Idee gefolgt, dass Tier einfach ersaufen zu lassen und am nächsten Morgen die Toilettenspülung zu tätigen (hätte bestimmt auch 'ne saftige Rohrverstopfung gegeben ...) sondern ich bin dann mit Handschuhen in das Toilettenspülwasser rein ... Das Viech wurde auf einmal wieder ziemlich munter, zappelte herum und verkrallte und verbiss sich in den Handschuh, und ich war froh, als ich es endlich in der Plastiktüte hatte und raustragen konnte ...  Mann, das war vielleicht widerlich ... Wir wissen auch immer noch nicht genau, wie dieses Getier überhaupt ins Klo kommen konnte, na ist auch egal ...


Keine Sorge, liebe Hörer, Ratten sind in koreanischen Wohnungen eine Seltenheit, und die ganze Geschichte liegt mittlerweile so lange zurück, dass das besagte Tier von damals inzwischen sicher niemandem mehr über den Weg läuft. Aber wenn ich heute so zurückblicke, wird mir einmal mehr deutlich, dass ich damals offenbar nicht Korea gekommen war, um eine bequeme, entspannte, erholsame Zeit zu verbringen. Und darüber bin ich heute sehr froh. Wie die ganze Sache weiterging und wen ich sonst noch so kennenlernen durfte, davon berichte ich beim nächsten Mal.

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